Werner Kutzelnigg
The following article comes
from the journal
Nachr. Chem. Tech. Lab. 46, 1040-1041 (1998).
Preamble from the editor :
Nobelpreise für Chemie und Medizin 1998.
Für ihre bahnbrechenden Beiträge zur
Theoretischen Chemie wurden in diesem
Jahr die Wissenschaftler John A.
Pople (Evanston) und Walter Kohn
(Santa Barbara) mit dem Nobelpreis für
Chemie geehrt. Mit dem Nobelpreis für
Physiologie und Medizin wurden die
Amerikaner R. Furchgott (New York),
und Ferid Murad (Houston) und Louis J.
Ignarro (Los Angeles) zu gleichen Teilen
ausgezeichnet, für den Nachweis, daß
NO als gasförmiger Botenstoff im kardiovaskulären
System wirkt.
Quantenchemie.
W. Kutzelnigg, Bochum
<
Theoretische Chemiker haben schon des
öfteren Nobelpreise erhalten, z.B. L. Pauling,
R.S. Mulliken. R. Hoffmann, K. Fukui oder
R. Marcus. Ein besonders wichtiges
Teilgebiet der Theoretischen Chemie, nämlich die
numerische Ab-initio-Quantenchemie ist
aber bisher noch nicht durch einen
Nobelpreis ausgezeichnet worden.
Die Aufgabe dieses Forschungsgebiets
besteht darin, ausgehend von der
Vielteilchenquantenmechanik durch aufwendige
numerische Verfahren die Strukturen und
Eigenschaften von Molekülen sowie ihre
Wechselwirkung und chemische Reaktionen unter zu
Einsatz von Computern zu berechnen. Die
Bezeichnung "ab initio" bedeutet dabei, daß
nur Naturkonstanten eingehen, aber (anders
als bei den semiempirischen Methoden)
keine an experimentelle Daten anpaßbaren
Parameter.
Das Nobelkomitee wollte offenbar das
gesamte Gebiet mit einem einzigen Preis
auszeichnen und stand damit, wie in ähnlichen
Situationen, vor der Frage, an welchem
Namen es die numerische Quantenchenue
festmachen sollte.
Man hätte sich z.B. an die noch lebenden
Pioniere dieses Gebiets, wie C.C.J. Roothaan
oder K. Ruedenberg, erinnern können. Wenn
S.F. Boys noch lebte, hätte man ihn sicher
nicht übergehen dürfen. Man hätte auch nach
denen suchen können, die wesentliche oder
besonders originelle methodische
Innovationen eingeführt haben. Auf der Homepage
des Nobelkommittees wird immerhin in
einem Nebensatz P. Pulay im Zusammenhang
mit der Berechnung von Energie-Gradienten
erwähnt.
Eine andere Möglichkeit wäre gewesen,
solche Kollegen auszuzeichnen, die besonders
chemierelevante Anwendungen gemacht
haben, z.B. P. v. R. Schleyer.
Mit der Wahl von J.A. Pople hat sich das
Kommittee für denjenigen unter den
führenden Quantenchemikern entschieden, der
mehr als alle anderen für die Popularisierung
dieses Gebiets getan hat, und der für viele
Außenstehende als der Repräsentant der
numerischen Quantenchemie schlechthin gilt.
Wer kennt nicht das vor allem mit dem
Namen Pople verbundene Programmpaket
GAUSSIAN, auch wenn er selbst jetzt nicht
mehr daran beteiligt ist? Es ist sicher zu
einem nicht unwesentlichen Teil J.A. Pople zu
verdanken, daß es heute die
anwendungsorientierte Forschungsrichtung "Computational
Chemistry" gibt, und daß heute jeder
Chemiker seine Experimente durch
quantenchemische Rechnungen mit
Black-box-Programmen ergänzen kann.
Die wissenschaftliche Bedeutung von J.A.
Pople beschränkt sich nicht auf seine Rolle
im Rahmen des GAUSSIAN-Pakets. Er hat
früher leistungsfähige semiempirische
Methoden, wie CNDO, entwickelt, die vor ca. 30
Jahren ähnlich nützlich waren wie heute die
Ab-initio-Methoden. Er hat wichtige
Arbeiten zu magnetischen Eigenschaften von
Molekülen gemacht, ehe er sich der
Ab-initio-Gemeinde anschloß und auch bald auf
diesem Gebiet von sich reden machte.
Zu einer Zeit, als andere schon die
Elektronenkorrelation berücksichtigten. warb Pople
zunächst noch um eine Modell-Chemie,
basierend auf SCF-Rechnungen mit kleinen
Gauß-Basen. Kurz darauf führte er z.T. in
Konkurrenz mit R.J. Bartlett, sehr effeziente
Methoden zur Erfassung der
Elektronenkorrelation ein, die mehr Ahnlichkeiten mit
früher in Deutschland entwickelten Verfahren
wie xxxA und CEPA. hattten, als damals -
und auch später - zugegeben wurde.
Was J.A. Pople besonders auszeichnet, ist
sein Gespür für die Notwendigkeit der
Systematik und für Standards. Mit den von Pople
standardisierten Näherungsstufen und
Basissätzen war die Reproduzierbarkeit und
Konsistenz von Rechnungen aus den
verschiedensten Gruppen gewährleistet. Die
Poplesche Nomenklatur, wie 6-31G* für eine
bestimmte Basis, ist ganz in den Sprachschatz
der Chemiker eingedrungen.
Während unter Experten wohl Konsens
darüber besteht, daß ein Nobel-Preis für die
Ab-initio-Quantenchemie ohne Beteiligung von
J.A. Pople so gut wie undenkbar gewesen
wäre, muß man, um verständlich zu machen,
wieso die andere Hälfte des Preises an W.A.
Kohn geht, etwas weiter ausholen.
W. Kohn ist in erster Linie
Festkörperphysiker, und in seiner Community hätte sich wohl
manch einer nicht gewundert, wenn ihm der
Nobelpreis für Physik zuerkannt worden
wäre. Auf die Verdienste von W. Kohn in der
Festkörperphysik kann hier nicht
eingegangen werden, zumal in der Laudatio
ausdrücklich nur auf zwei Arbeiten von Kohn Bezug
genommen wird.
In der einen, mit dem Titel "Inhomogeneous
Electron Gas" [Phys Rev. B 1964, 136, 846]
wird das sog. Hohenberg-Kohn-Theorem
hergeleitet. Ausgehend von der
Beobachtung, daß eine Änderung des äußeren
Potentials eine Änderung der Elektronendichte
bewirkt, wird geschlossen, daß die Summe F
aus kinetischer Energie und
Elektronenwechselwirkungsenergie ein Funktional nur
der Elektronendichte r sein muß.
Mathematisch gesehen bedeutet dies eine Legendre-
Transformation von der Energie E als
Funktional des Potentials V zu F = E - Integral(rVdt) als
Funktional der Dichte r, weil r die
Funktionalableitung von E nach V ist.
Dies ist eines der kuriosesten Theoreme der
Physik, weil einerseits die Existenz des
Funktionals F(r) bewiesen, zugleich aber deutlich
wird, daß dieses Funktional grundsätzlich
bekannt ist und daß das wichtigste Kriterium
für die Qualität eines genäherten Funktionals
dessen Bewährung bei praktischen Rechnungen ist.
Damals kannte man schon lange das
Dichtefunktionalmodell von Thomas und Fermi,
das aber unbefriedigend war, zumal es nicht
einmal die Schalenstruktur der Atome richtig
beschrieb. Das lag vor allem daran, daß es
außerordentlich schwierig ist, die kinetische
Energie als Funktional der Dichte zu
formulieren.
Die entscheidende Bedeutung der zweiten
gewürdigten Arbeit von Kohn, gemeinsam
mit L.S. Sham [Phys. Rev. A 1965, 140, 133]
besteht nun darin, auf die Berechnung der
kinetischen Energie als Funktional der Dichte
bewußt zu verzichten, sondern diese für ein
nichtwechselwirkendes Modellsystern exakt
(eben nicht als Dichtefunktional) zu
berechnen. Die sog. Dichtefunktionale vom
Kohn-Sham-Typ sind damit, streng genommen,
keine echten Dichtefunktionale mehr.
Einen Prototyp dieser Art von Funktionalen
gab es damals bereits in der sog.
Xa-Methode von
J.C. Slater, die ursprünglich als eine
Näherung für die Hartree-Fock-Methode
konzipiert war, wobei man den nicht-lokalen
Hartree-Fock-Austausch durch eine lokale
Approximation ersetzte. Es stellte sich
heraus, daß die lokale Näherung des
Elektronenaustauschs (durch ein
Austauschdichtefunktional) dem exakten
Hartree-Fock-Austausch vielfach überlegen ist, vor allem, weil
man mit dem lokalen Austausch das falsche
Verhalten der Hartree-Fock-Näherung bei
Bindungdissoziationen von Molekülen und
von Metallen an der Fermi-Kante vermeidet.
Man kann an dieser Stelle den Vertretern der
Ab-initio-Theorie den Vorwurf nicht
ersparen, daß sie diese wichtige Beobachtung nicht
sorgfältig analysiert und daraus konstruktive
Schlüsse gezogen haben. Daß die
Xa-Näherung
sich letztlich nicht durchsetzte, lag vor
allem an deren etwas unglücklicher Ehe mit
der sog. Muffin-tin-Näherung. Daß es auch
ohne letztere ging, hat u.a. E.J. Baerends
gezeigt, der aber wenig beachtet wurde.
Funktionale vom Kohn-Sham-Typ der sog.
ersten Generation wurden erfolgreich in der
Festkörpertheorie eingesetzt, bei Molekülen
nur sporadisch (z.B. von R.O. Jones), vor
allem weil sie den Genauigkeitsansprüchen der
Quantenchemie nicht genügten. Dies änderte
sich schlagartig, als (vor allem dank A.D.
Becke und J.P. Perdew) die sog.
Dichtefunktionale der zweiten Generation (mit
verallgemeinerten Gradientenkorrekturen) auf den
Markt kamen. Bis dahin hatte es viele
vergebliche Versuche gegeben, physikalisch
begründet bessere Funktionale zu finden.
Um die Popularisierung des
Dichtefunktionalansatzes in der Chemie hat sich vor allem
R.G. Parr verdient gemacht.
Dichtefunktionale der zweiten Generation wurden u.a. von
J.A. Pople, N.C. Handy und G. Scuseria für
quantenchemische Rechnungen
implementiert. Sie sind heute in nahezu allen
verfügbaren Programmpaketen abrufbar.
Dichtefunktionalansätze haben gegenüber traditionellen
Ab-initio-Verfahren den Vorteil, daß sie
einfacher und damit billiger, und somit auf
große Moleküle anwendbar sind. Vor allem bei
Systemen mit d- oder f-Elektronen haben
Dichtefunktionalansätze deutliche Vorzüge.
Zum Glück - aus der Sicht eines Vertreters
der strengen Theorie - hat die
Dichtefunktionaltheorie auch eine Reihe grundsätzlicher
und vermutlich unüberwindlicher
Schwächen, weshalb die aufwendigeren
Ab-initioMethoden keineswegs überflüsig werden.
Bei diesen weiß man, zumindest im Prinzip,
wie man eine Rechnung systematisch
beliebig genau machen kann, auch wenn das oft in
der Praxis am Mangel an Computerresourcen
scheitert.
Bei Dichtefunktionalen gibt es keinen
Ausweg, wenn die Genauigkeit nicht reicht,
außer der Hoffnung auf vielleicht noch zu
entwickelnde bessere Funktionale.
Unverkennbar ist auch, daß in den heute populärsten
Dichtetunktionalen wieder anpaßbare
Parameter, wie in den semiempirischcn
Methoden, auftreten.
Mit der Verleihung des Nobelpreises an J.A.
Pople und W. Kohn wird letztlich gewürdigt,
daß jedem Chemiker
Ab-initio-Programmpakete (nicht nur GAUSSIAN) zur Verfügung
stehen, mit denen er z.B. B3LYP-Rechnungen
machen kann, in die das Know-how der
Ab-initio-Quantenchemie und der
Dichtefunktionaltheorie eingegangen sind, wobei der
Zusammenhang zu den Arbeiten von Walter
Kohn doch eher indirekt ist.
Die gleichzeitige Verleihung des
Nobelpreises an Pople und Kohn läßt vielleicht zu
Unrecht den Eindruck entstehen. als sei der
entscheidende Durchbruch der numerischen
Quantenchemie erst mit der Kombination
traditioneller Ab-initio-Methoden mit der
Dichtefunktionaltheorie gekommen, auch
wenn diese durchaus neue Möglichkeiten
eröffnet hat. Auch wird eine sachliche und
vorurteilsfreie Würdigung der
Dichtefunktionaltheorie, die schon jetzt oft gegen eine
geradezu rituelle, aber physikalisch nichtssagende
Beschwörung des
Hohenberg-Kohn-Theorems zu kämpfen hat, kaum leichter werden.
Sei‘s drum. Walter Kohn und John Pople sind
würdige Nobelpreisträger. Freuen wir uns
mit ihnen, und wünschen wir der
numerischen Quantenchemie weiterhin viel Erfolg.
— Werner Kutzelnigg. Bochum.
Last updated : Mar. 24, 2002 - 17:25 CET